Heute jährt sich die Verlegung von Stolpersteinen in Bautzen zum zehnten Mal. Aus diesem Anlass fand an einer Verlegestelle in der Reichenstraße eine kleine Festveranstaltung mit jüdischer Musik und Redebeiträgen statt. Veranstalter waren die Stadt Bautzen, der Arbeitskreis Judentum und der VVN-VdA.

Meinen Redebeitrag findet hier veröffentlicht, damit er nicht nur die dort Anwesenden erreicht!

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Helga Piwecki wäre heute 85 Jahre alt geworden. Sie wurde am 10. Juli 1932 in Berlin geboren, wohnte dort. Im Alter von neun Jahren wurde sie am 27. November 1941 nach Riga deportiert. Dort starb sie drei Tage später im Wald von Rumbula, einem Ort, an dem die Nationalsozialisten innerhalb von nur drei Tagen über 26.000 Menschen erschossen. Helga Piwecki wurde nur neun Jahre alt. Für sie gibt es (noch) keinen Stolperstein.

Es ist gut, dass Gunter Demning im Jahr 1992 mit dem Projekt „Stolpersteine“ startete und damit das Gedenken an die Menschen an ihren letzten selbstgewählten Wohnort zurückbrachte: An dem Ort, an dem wir heute stehen, lebte die vierköpfige Familie Grossmann. Vater und Söhne überlebten durch Zwangsarbeit beziehungsweise Flucht. Die Mutter Rachel wurde in Auschwitz ermordet. Zudem lebte Alfred Kristeller in dem Haus, an den ebenfalls ein Stolperstein erinnert. Alle waren Opfer der Shoah. Bei dem Projekt Stolpersteine wird an alle Opfer der Nationalsozialisten, nicht nur an die Opfer der Shoah, erinnert: auch an Antifaschist*innen, Sinti und Roma, an Opfer der Aktion T4, an Homosexuelle, Zeugen Jehovas und Menschen aus anderen Gruppen die den perfiden Verbrechen der Nationalsozialisten zum Opfer fielen.

Die Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus und damit auch die Erinnerung an die Opfer dessen begann sehr spät. Die Erinnerung an die Shoah gewann erst ab den späten 1970er Jahren wirklich an Bedeutung und es ist sicher auch kein Zufall, dass ein zentraler Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus erst nach der Wiedervereinigung im Jahr 1996 eingeführt wurde. An diesem Tag, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945, wird in Deutschland an alle Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Das zentrale Holocaust-Mahnmal in Berlin wurde erst im Mai 2005 nach einer langen Kontroverse über Ort und Zweck eröffnet. Das Gedenken an die Opfer ist relativ jung! Allerdings ist in der Gesellschaft zu spüren, dass sich große Teile nicht mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte befassen möchten. Ein Anzeichen dafür ist die seit Jahrzehnten immer wieder aufkommende Debatte einen „Schlussstrich“ zu ziehen oder auch den „Schuldkult“ zu beenden.

Wir leben leider in einer Zeit, in der rechtspopulistisches Gedankengut sich in immer weiteren Kreisen der Gesellschaft verbreitet. Das macht das Gedenken wichtiger denn je. Natürlich erreichen wir damit nicht direkt die Personen, die das Gedenken ablehnen oder verhindern wollen. Wir sollten aber immer daran denken, dass wir auch jeden Tag im Kleinen, in der Familie, im Kollegenkreis und in der Freizeit etwas erreichen können, indem wir diesen Meinungen widersprechen oder auch einfach nebenbei an das eine oder andere unbekannte Opfer der Nationalsozialisten erinnern. Das erfordert Kraft und ist nicht leicht, aber es ist nötig! Die Erinnerung bleibt sicher auch weiterhin konfliktreich, umkämpft und umstritten. Gedenkformen müssen in Zeiten von Migration und Globalisierung vermutlich auch teilweise neu verhandelt und angepasst werden. Allerdings können und müssen wir täglich im Kleinen dafür kämpfen, die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten und die Opfer wachzuhalten. Dafür muss jeder und jede seinen und ihren eigenen Weg finden.

In vielen – gerade jüdischen – Familien überlebte keiner, der an die Opfer erinnert. Dies müssen wir, die wir für eine offene und tolerante Gesellschaft kämpfen, übernehmen. Wir können uns bspw. an Helga Piwecki erinnern, die heute 85 Jahre alt geworden wäre. Ich habe sie ganz zufällig und rein aufgrund ihres Geburtsdatums aus dem Gedenkbuch des Bundesarchives ausgewählt. Ich hätte auch einfach einen weiteren dort derzeit verzeichneten Namen bzw. Schicksal nehmen können. An meinem Geburtstag erinnere ich jedes Jahr meine Gratulanten an ein bekanntes Opfer der Shoah, Anne Frank, sie wurde 57 Jahre vor mir geboren und wäre heute so alt wie meine Großmutter. Dies irritiert Menschen zunächst, wenn man sich artig für die Gratulation bedankt und dann sagt: „Anne Frank wäre heute übrigens 88 Jahre alt geworden!“ Im Kleinen, in ganz alltäglichen Situationen, müssen wir das Gedenken wachhalten.

Wir dürfen alle Opfer des Nationalsozialismus nie vergessen. Wir müssen ihre Namen und ihre Schicksale in Erinnerung halten. Nicht nur an Gedenktagen oder zu besonderen Anlässen, sondern immer und immer wieder!

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